Schäm dich!


Doch für was eigentlich? Bin ich zu dick- oder zu dünn? Bin ich zu wenig gestylt- oder gar „too much?“ Ist meine Haut zu dunkel – oder doch zu blass? Soll ich mich schämen für mein Geschlecht? Oder doch eher für meine sexuelle Orientierung? Bin ich als Person zu ruhig und fad– oder aber zu „aufgedreht“ und „over the top“?! Hab ich etwas getan, wofür ich mich schämen sollte, weil man das einfach „nicht macht“ – oder habe ich gar jemandem Unrecht angetan?
Was ist das nun mit der Scham? Weshalb brauchen wir dieses tabuisierte Gefühl, das keiner will, von dem niemand spricht, welches in Forschung und Literatur häufig so sträflich vernachlässigt wird?
Jede und jeder von uns war schon einmal in einer Situation, in der wir uns geschämt haben. Scham gehört einfach zum Menschsein.


Zum Beispiel…
…als wir gerade im Yoga-Seminar den „Hund mit dem Gesicht nach unten“ praktizierten… und uns ein sanftes Lüftchen (PUPS!) entwich
…als wir uns vor versammelter Belegschaft vom Chef maßregeln und heruntermachen ließen…
…dazumals, in der vierten Klasse, als uns die Geschichtelehrerin zum xten Male vor die Klasse holte und uns genussvoll unser geschichtliches Unvermögen unter die Nase rieb…

Und dieser schamhaften Beispiele gäbe es wahrlich noch viele…
Bewusst oder nicht, es war uns etwas so peinlich, dass wir vor Scham im Gesicht rot angelaufen sind. Oder es ist uns sprichwörtlich die „Farbe abgelaufen“, und wir wurden ganz bleich. Wir können auf ein ausgeprägtes Gefühl der Scham ähnlich wie auf ein Schockerleben oder auf ein traumatisierendes Erlebnis reagieren.

Körperliche Reaktionen bei Scham

Der Gehirnstamm übernimmt das Kommando, die Funktionen beschränken sich, ähnlich wie bei akuten Stressreaktionen oder bei traumatischem Erleben, auf das Überlebenswichtige. Dieser Teil des Gehirns, auch als Reptiliengehirn bezeichnet, weil es der evolutionär älteste Teil des menschlichen Gehirns ist, sichert unser Überleben. Er regelt Atmung, Herzschlag und Verdauung. Die kognitiven Gehirnfunktionen werden vom Körper als wenig überlebenswichtig eingeordnet und lassen aus. So wird zum Beispiel die Fähigkeit, komplexe Mathematikstrukturen zu durchschauen oder Lateinvokabel abzurufen, in diesem Zustand ausgeschaltet. Es entstehen die sogenannten „Black-Outs“, bei denen bereits Gelerntes in Stresssituationen (Prüfung vor der Klasse, großer Druck und Angst vor Versagen…) einfach nicht mehr abrufbar ist.
In Situationen der Scham fährt unser vegetatives Nervensystem alles hoch, was es zu bieten hat – Sympatikus und Parasympatikus werden gleichermaßen aktiviert und blockieren dabei einander. Eine gleichzeitige Über- und Unterreaktion in der Blutzufuhr macht sich bemerkbar, wir wechseln die Gesichtsfarbe zwischen glühend-rot und leichenblass.

Die Formen der Scham

Laut Psychoanalytiker Leon Wurmser ist “Scham die Wächterin der menschlichen Würde“.
Scham ist schmerzhaft, kann uns klein, schwach und hilflos machen.
Sie kann uns jedoch auch nützlich sein und unsere emotionale Entwicklung fördern, indem sie unsere Grenzen aufzeigt und hilft, unsere Würde zu wahren. Durch unser Gewissen, welches und sagt was richtig und falsch ist, wird unser Zusammenleben positiv beeinflusst und Gewalt reduziert. Wir verhalten uns moralischer.
Scham macht Reflexion möglich, hilft Verantwortung zu übernehmen und Wiedergutmachung zu leisten.
In seinem Buch „Scham. Die tabuisierte Emotion“ beschreibt der deutsche Sozialwissenschaftler Stephan Marks die vier Grundformen der Scham:

  • Scham infolge von Verletzungen des Grundbedürfnisses nach Anerkennung
  • Scham infolge von Verletzungen des Grundbedürfnisses nach Schutz
  • Scham infolge von Verletzungen des Grundbedürfnisses nach Zugehörigkeit
  • Scham infolge von Verletzungen des Grundbedürfnisses nach Integrität


Man kann sich Scham wie einen Seismographen vorstellen, welcher auf die Verletzung der menschlichen Grundbedürfnisse nach Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und Integrität sehr sensibel reagiert. Scham tritt auf, wenn die Würde eines Menschen in Gefahr ist und durch andere oder durch sich selbst verletzt wurde.

Scham als Entwicklungsimpuls

Am Beispiel eines kleinen Kindes kann man leicht erkennen, wie Scham die persönliche Entwicklung unterstützen kann, vorausgesetzt eine förderliche Lernumgebung steht zur Verfügung:


Zwei Kleinkinder spielen friedlich nebeneinander in der Sandkiste. Da nimmt die zweijährige Marika dem gleichaltrigen Leon seine Schaufel weg. Dieser schaut erst überrascht, verzieht dann langsam seinen Mund und beginnt lauthals zu weinen. Marika wirkt überrascht, schaut Leon an, dann ihre Schaufel, wirkt verunsichert. Fängt kurz zu schaufeln an, ist jedoch von Leons Gebrüll so irritiert, dass sie zu spielen aufhört und ebenfalls zu weinen beginnt.
Nun kann Marika mit Unterstützung ihrer Eltern lernen, dass man keine Spielsachen wegnehmen darf. In einfachen, unaufgeregten Worten wird ihr erklärt, warum Leon weint. Sie darf sich dabei schutzsuchend und beschämt bei ihrem Papa oder ihrer Mama verstecken, weil sie begriffen hat, ihr Verhalten war nicht in Ordnung. Sie schämt sich dafür. So kann sie beim nächsten Mal bereits besser zwischen richtig und falsch entscheiden, so entwickelt sich ihr persönliches Verständnis von Moral.


Darum ist es so wichtig, Scham nicht auf jeden Fall vermeiden zu wollen, sondern diese als wichtigen Entwicklungsimpuls zu verstehen lernt.


Grundlegendes

Für alle Personen, die beruflich mit Menschen zu tun haben, ist es meiner Meinung nach unverzichtbar, Grundlegendes über das tabuisierte Gefühl der Scham zu wissen, denn es kann in jeder zwischenmenschlichen Beziehung auftreten.
Einerseits bedeutet das, Scham zu erkennen und verantwortungsvoll und kompetent mit dieser natürlichen menschlichen Reaktion umzugehen. Dieses unangenehme, peinliche Gefühl, das meist mit körperlichen Reaktionen wie zum Beispiel Erröten einher geht, ist individuell sehr unterschiedlich veranlagt, und je nach Kulturzugehörigkeit oder Geschlecht verschieden ausgeprägt. Scham kann nur kurz auftreten oder von Dauer sein und sie kann von unterschiedlicher Intensität sein.
Andererseits bedeutet es, über die negativen Folgen von Beschämung durch Ausgrenzung, Verhöhnen oder Verachtung Bescheid zu wissen und solchem Verhalten entschieden und professionell entgegenzuwirken.

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