Gefühlskarussell – Scham

Scham ist das unangenehmste aller Gefühle. Wir versuchen sie zu vermeiden, wann auch immer es nur geht. Es ist das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, fehl am Platz zu sein oder nicht dazuzugehören. Scham löst starke körperliche Reaktionen wie erröten aus. Sprichwörtlich möchte man „im Boden versinken“, wenn man sich schämt.

Entwicklung der Scham

Schamgefühl entwickelt sich rund um den dritten Geburtstag. Studien konnten nicht nachweisen, dass sich Mädchen häufiger oder früher schämen als Buben. Scham entwickelt sich jedoch individuell verschieden, je nach kultureller Zugehörigkeit und Geschlechtsidentität. Durch Erziehung und Bildung wird Scham transgenerational weitergegeben.

Anfänglich entwickelt sich die sogenannte Selbstscham. Kinder möchten nicht mehr ungefragt an allen Körperstellen berührt werden, möchten alleine zur Toilette gehen oder ziehen sich zurück, wenn sie in die Windel machen. Sie möchten nicht mehr, dass ihnen beim Anziehen geholfen wird. Fremden gegenüber zeigen sie sich vermehrt schüchtern.

Wenn Kinder lernen, sich auch in andere Menschen hineinzuversetzen, entsteht situative Scham. Sie schämen sich, wenn sie etwas sehen oder miterleben, was ihnen unangenehm ist. So kann es plötzlich peinlich sein, wenn sich die Eltern küssen oder wenn sie ins Badezimmer gehen und ein Familienmitglied nackt sehen. An der Reaktion des Umfeldes lernt ein Kind zu erkennen, ob eine Situation angemessen oder unangemessen ist.

Im familiären Umfeld lernen Kinder, was wann angemessen oder unangemessen ist. So kann es im engen Familienkreis toleriert werden, wenn man in Unterwäsche durchs Haus geht. Wenn jedoch Besuch im Haus ist, wird dies als unpassend vermittelt. Eltern sollten hier Einigkeit zeigen und Unterschiede mit dem Kind besprechen.

Scham, Schuld und Schande

Scham, Schuld und Schande werden häufig gleichgesetzt und missverständlich verwendet. Scham ist ein gesundes Gefühl, wenn man so will ein Seismograf, der uns anzeigt, in welche Richtung wir uns moralisch entwickeln. Ein Kind, das etwas stielt und dabei erwischt wird, kann Scham empfinden. Es kann nun daraus lernen, dass Diebstahl nicht richtig ist und so diese Erkenntnis zur eigenen moralischen Entwicklung nutzen. Schuld ist explizit auf eine falsche Tat bezogen und kann wie finanzielle Schuld wieder ausgeglichen werden. Das Kind kann das gestohlene Gut wieder zurückgeben und vielleicht dazu eine Wiedergutmachung anbieten. Schande hingegen ist ein Makel, der nur durch die Wiederherstellung der Ehre ausgeglichen werden kann. Dies geschieht in den unterschiedlichen Kulturen jeweils auf unterschiedliche aber meist grausame Art und Weise.

Beschämung ist die ungesunde Schwester der Scham. Beschämung findet immer von außen statt. Beschämung ist ein Machtinstrument und kann traumatisierend wirken. Wenn Beschämung überwältigend ist, kann sie uns wie ein Schock überflutet. Körperlich treten dieselben Reaktionen auf: Unser Gehirn schaltet auf Notbetrieb um und wir können nur mehr kämpfen, fliehen oder erstarren.

„Was ist dir das Menschlichste? Dir Scham zu ersparen.“

 – meinte einst Friedrich Nietzsche. Hier kann ich ihm nicht uneingeschränkt zustimmen. Man kann keinem Menschen Scham ersparen. Es ist auch gar nicht notwendig, da Scham enorme Entwicklungsimpulse setzten kann. Wir lernen aus unseren Fehlern. Dazu gehört auch, die daraus resultierenden unangenehmen Gefühle auszuhalten und erfolgreich zu überwinden. Nur dann wenn ich aus dieser unangenehmen Erfahrung Wissen generiere, habe ich tatsächlich gelernt. Wir sind jedoch dazu verpflichtet unsere Kinder nicht zu beschämen. Damit würden wir nämlich das Gegenteil bewirken. Sie entwickeln Angst vor Fehlern, Angst etwas falsch zu machen, sich fehl am Platz zu fühlen, sich falsch zu fühlen. Diese Angst verhindert eine gesunde Entwicklung.

Die Schamforschung unterscheidet vier wesentliche Auslöser für Scham. Schauen wir uns diese einzeln an und erforschen wir gemeinsam den schmalen Pfad zwischen Beschämung und der Nutzung des Entwicklungsimpulses, der eine Situation bietet.

Ich möchte geachtet werden, auch wenn ich Fehler mache.

Eines unserer Grundbedürfnisse ist Anerkennung. Wir wollen gesehen werden und Wertschätzung erfahren. Bei Kindern, die vor allem in einer sehr frühen Lebensphase keine Nähe und Beachtung erfahren haben, weil ihre Eltern vielleicht nicht dazu in der Lage waren oder pathogene Erziehungspraktiken angewandt haben, konnte nachgewiesen werden, dass das Wachstum bestimmter Gehirnregionen gehemmt wurde. Menschen Anerkennung zu verweigern ist ein altes Machtinstrument.

Einem Menschen Scham zu ersparen bedeutet, ihn anzuerkennen, ihn zu sehen, auch wenn er Fehler macht. Das bedeutet nicht, jede Regung übermäßig und unkritisch fantastisch zu finden. Leider wird der Entzug von Anerkennung in der Erziehung oft als Machtmittel eingesetzt. Dabei verspielt die Bezugsperson genau in diesem Moment das Entwicklungspotential der Situation. Kommen wir noch einmal auf das Kind zurück, das etwas gestohlen hat. Wird das Kind durch Missachtung bestraft, wird es in der Situation alleine gelassen. Es wird nicht in der Lage sein, daraus zu lernen. Möglicherweise wird es sich selbst als Opfer sehen und weitere Taten begehen, um endlich Anerkennung zu erlangen. Vielleicht erlangt das Kind von den falschen Menschen Anerkennung, weil es gestohlen hat. Geht man aber in den Dialog mit dem Kind, so kann sich das Kind die Erkenntnis erlangen, das stehlen falsch ist. Es kann sich entschuldigen und eine Wiedergutmachung anstreben. Die Würde des Kindes bleibt erhalten, die Beziehung wird nicht verletzt.

„Gib dem Onkel ein Küsschen!“

Wenn körperliche oder seelische Grenzen verletzt werden, verspüren wir ein hohes Maß an Schamgefühl. Wenn öffentlich wird, was privat wird, wenn man in verletzlichen Situationen schutzlos ausgeliefert ist. Hierzu würden mit unzählige Beispiele einfallen. Die unzumutbaren Zustände in der Pflege, die sexistischen Übergriffe in Sport oder Politik, der Machtmissbrauch in vielen Unternehmen, um nur einige zu nennen.

Wie werden Kinder aufgrund von Grenzverletzungen beschämt? In der Familie sind wir verpflichtet, Kindern einen geschützten Raum zu bieten und ihre Privatsphäre zu wahren. Das beginnt damit, dass wir Kinder nicht ungefragt an allen Körperstellen berühren, wir wahren ihre Grenzen und ihr Bedürfnis nach Rückzug. Wir unterstützen unsere Kinder, wenn sie lernen „Nein“ zu sagen. Missachten wir diese Grenzen, so lernt das Kind, dass es nicht wichtig ist, Grenzen anderer zu achten. Oder noch schlimmer, es lernt, nicht auf die eigenen Grenzen zu achten. So wird es ein leichtes Opfer für Missbrauch und Gewalt.

Dazugehören – Um jeden Preis?

Evolutionsbiologisch war es für Menschen immer wichtig, zu einer Gruppe dazuzugehören. Wir waren nie Einzelgänger, wir waren immer aufeinander angewiesen, nur so konnten wir überleben. Daher ist Zugehörigkeit eines unserer wesentlichen Grundbedürfnisse. Werden wir ausgegrenzt, ausgelacht oder gemieden weil wir anders sind, so trifft uns das tief. Die durch mangelnde Zugehörigkeit ausgelöste Scham hat mit der Differenz zwischen der Erwartungen der anderen (Gesellschaft, Schule, Familie) und dem, was ich bieten kann zu tun. Schönheitsideale einer Gesellschaft, Erfolg, Stärke, Bildungsniveau, aber auch Statussymbole oder Verhaltensweisen bieten Vergleichsmöglichkeiten.

Wie können wir unsere Kinder dabei unterstützen, ihr Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu stillen und gleichzeitig ihre Einzigartigkeit anzuerkennen? Gerade wenn Kinder häufig Ausgrenzung erfahren haben, laufen sie Gefahr, um jeden Preis dazugehören zu wollen. Die beste Basis für Mobbing. Jeder Täter brauch Mitläufer. Wir können Zugehörigkeit vermitteln, indem wir positive Gruppendynamiken fördern. Wir können sie bestärken, Erwartungen zu hinterfragen und zu widerstehen. Wir können sie ermutigen auch hier „Nein!“ zu sagen.

Schwiegermutter-Witz

Zivilcourage ist ein hohes Gut, dennoch fällt es uns manchmal schwer, in der Öffentlichkeit erlebtes Unrecht anzusprechen. Wir machen uns mitschuldig, wenn wir nur daneben stehen und nichts sagen. Im Nachhinein schämen wir uns, weil wir entgegen unseren Werten gehandelt haben. Wenn Unrecht geschieht, wenn jemand neben uns ausgegrenzt, herabgewürdigt oder beschimpft wird, fühlen wir uns mitschuldig. Genau hier setzt die Beschämung durch Verletzung der Integrität als Machtinstrument an.

Wir können unseren Kindern diese Scham ersparen, indem wir sie dabei unterstützen, mutig gegen Unrecht einzutreten. Wir müssen sie davor bewahren, indem wir ganz besonders in ihrer Gegenwart andere Menschen nicht ausgrenzen, nicht herabwürdigen oder beschämen. Manchmal passiert das unbewusst und versteckt in Sarkasmus, wenn wir flapsig über die Schwiegermutter lästern, im Ärger schlecht über den (Ex-)Partner sprechen oder seine Freunde herabwürdigen.

Scham kann notwendige Impulse für unsere moralische Entwicklung geben. Sie ist aber auch ein Seismograf für unsere Würde und die Verletzung der Menschenwürde und der Bedürfnisse nach Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und Integrität. Bei Kinder schlägt dieser Seismograf noch viel leichter aus. Nehmen wir diese Sensibilität ernst.

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