Von der richtigen Dosis Erwartung
Vor wenigen Wochen rief mich eine verzweifelt Mutter an. Ihr Sohn, ich nenne ihn hier Emil, gehe in die vierte Klasse Volksschule. Er habe auf die erste Mathematikschularbeit in diesem Schuljahr einen 3er geschrieben. Die Lehrerin habe damals gemeint, dass er im Zeugnis noch auf einen, 2er kommen könnte, wenn die zweite Schularbeit und alle anderen Leistungen im ersten Semester entsprechend gut sein würden. Die Erwartungen der Familie seien hoch, Emil müsse unbedingt in ein stadtbekanntes Gymnasium aufgenommen werden. Schon Generationen ihrer Familie waren auf diesem Gymnasium und außerdem, eine akademische Laufbahn sei das Mindeste in ihrer Familie.
Die zweite Mathematikschularbeit war dann ein 4er. Emil wird im Semesterzeugnis bestenfalls einen 3er bekommen. Die Aufnahme ins Gymnasium ist in Gefahr. Emils Mutter brach während des Telefonats mehrmals in Tränen aus. Emil habe seitdem häufig Bauchschmerzen und möchte nicht mehr in die Schule gehen.
Wir könnten nun überlegen, welch absurden Belastungen Kinder und ihre Familien ausgesetzt sind. In unserem Schulsystem wird mit 9 Jahren über die mögliche Bildungslaufbahn eines Kindes entschieden. Doch soll dies kein Artikel über unser unperfektes Schulsystem werden. Dieser Anruf hat bei mir eine Frage aufgeworfen: Was machen unsere Erwartungen mit unseren Kinde?
Es gibt zahlreiche Synonyme für das Wort Erwartung: Vorstellung, Zukunftsblick, Hoffnung, Vorausschau, um nur einige zu nennen. Ich finde „Zukunftsblick“ trifft das, was ich beschreiben möchte, ganz gut. Wir stellen uns vor, wie es sein wird. Wir gehen in Gedanken den Weg zu den gesetzten Zielen und stellen uns vor, wie wir angekommen sind. Diese hoffnungsvollen Gedanken geben uns die notwendige Motivation, um die notwendige Anstrengung aufzubringen und Handlungen zu setzen, um das Ziel zu erreichen.
Woher kommen unsere Erwartungen?
Dieses Frage dürfen wir uns gleich zu Beginn stellen. Sind es meine Erwartungen, meine Vorstellungen? Ist es das, was ich mir erträumt habe? Oder sind es die Vorstellungen der Familie, meiner Eltern? Übertrage ich womöglich eine Haltung ungefragt auf mein Kind? Wird hier von Generation zu Generation eine Vorausschau weitergegeben, die keine Abweichung zulässt? Oder sind es gar Erwartungen die ich an mein Kind stelle, von denen ich nur DENKE, dass sie existieren?
Diese Muster in Frage zu stellen und zu durchbrechen, erfordert viel Kraft und Mut. Emil und seine Mutter sind hier gerade am Beginn des Weges und ich hoffe, sie holen sich professionelle Unterstützung dabei. Wäre keine Erwartungen zu haben der bessere Weg? Dann kann man auch niemanden enttäuschen. Ganz einfach!
Hier würden wir uns aber selbst betrügen. Wir alle haben Träume, wir setzen uns gerne Ziele und verfolgen diese auch. Alleine an einer Zielerreichung zu planen, löst in uns Vorfreude aus. In unserer Vorstellung entsteht das Bild, als hätten wir das Ziel schon erreicht. Es wird tatsächlich eine kleine Menge Dopamin ausgeschüttet, unser Glückshormon. Dies gibt uns die notwendige Motivation weiterzumachen.
Der richtige Grad an Erwartung
Motivation ist wichtig für unser Lernen. Ich meine damit nicht explizit Lernen im Kontext Schule. Doch in unserer Praxis geht es am häufigsten darum: Was kann ich von meinem Kind erwarten? Was würde mein Kind überfordern und was passiert, wenn es unterfordert ist?
Voraussetzung für eine angemessene Erwartungshaltung ist eine realistische Einschätzung der Kapazitäten. Setze ich die Messlatte übertrieben hoch an, erfolgt meist eine von zwei Reaktionen: Das Kind wirft sofort frustriert das Handtuch, da es davon überzeugt ist, die Erwartungen ohnehin nicht erfüllen zu können. Ein Rennen, an dem man nicht teilnimmt, kann man nicht verlieren. Oder das Kind strengt sich übermäßig an und kann dennoch das erhoffte Ziel nicht erreichen. Die darauf folgende Frustration und Selbstzweifel können enormen Schaden anrichten. Bei Emil war dies der Fall. Mutter und Kind haben vor der Schularbeit viel gelernt und Emils Mutter hat ihm eingebläut, diesmal einen 1er schaffen zu müssen, in dem guten Glauben, ihn so zu motivieren.
Doch auch das Gegenteil ist ungünstig. Setzt man die Messlatte zu tief, kann es sein, dass das Kind annimmt, dass man nicht an seine Kompetenzen und seine Wirksamkeit glaubt. Vielleicht denkt es auch, dass den Eltern egal ist, welche Leistungen es erbringt. Werden die Erwartungen permanent sehr niedrig gehalten, wird das Kind nicht lernen sich anzustrengen. Es wird nicht die Gelegenheit haben aus seiner Komfortzone zu kommen. Die Bereitschaft regelmäßig aus unserer Komfortzone zu kommen, eröffnet uns aber die Möglichkeit unsere Stärken und Talente zu entdecken.
Idealerweise setzt man die Erwartungen dezent über den realistischen Möglichkeiten an. Dazu muss man die Möglichkeiten gut einschätzen können. Emil liest unheimlich gerne. Er interessiert sich für Politik und Umweltschutz. Tiere liegen ihm sehr am Herzen und er schreibt mühelos interessante Aufsätze. In Mathematik hat er noch nicht den richtigen Zugang gefunden. Das Einmaleins sitzt nicht so richtig und bei den schriftlichen Rechenverfahren kommt ihm irgendwie immer alles durcheinander. Je mehr er geübt hat, desto mehr kam er zu der Überzeugung, dass er Mathe nicht mag.
Vielleicht hätte Emil bei der Schularbeit besser abgeschnitten, wenn er der Überzeugung gewesen wäre, einen 2er zu schaffen. Die Kombination aus zu großem Erwartungsdruck, übermäßigem Lernen von Inhalten, die nicht verstanden wurden und der Überzeugung, dass er Mathe nicht mag, hat nicht nur dazu geführt, seine und die Erwartungen der Mutter nicht zu erfüllen, sondern seine Annahme, schlecht in Mathe zu sein, hat sich dadurch noch verstärkt.
Die Brille der Erwartung
Dass Erwartungen unsere Wahrnehmung beeinflussen, wurde in der sogenannten Rosenthal Studie belegt. Lehrkräften, die eine Schülergruppe unterrichten sollten, wurde vorab mitgeteilt, wie hoch der IQ der Schüler sei. Diese Werte stimmten aber nicht mit den gemessenen Intelligenz-Quotienten der Schüler überein. Bei einigen wurden die Werte etwas nach oben korrigiert. Nach einiger Zeit wurden die von den Schülern erbrachten Leistungen verglichen. Tatsächlich waren die Schüler besser, denen man einen höheren IQ zugeschrieben hatte. Die Studie zeigte, dass diesen Schülern mehr Aufmerksamkeit zuteilwurde, die Lehrer verhielten sich wohlwollender ihnen gegenüber, kleine Fehler wurden eher übersehen und die Schüler wurden mehr gelobt. Dieser Effekt wurde unter dem Namen Pygmalion-Effekt bekannt.
Es ist gut Erwartungen zu haben. Man sagt ja: Vorfreude ist die größte Freude. Das führt zu einer guten Dosis Dopamin. Um das zu erreichen, habe ich die wichtigsten Punkte nochmal zusammengefasst:
Identifiziere den Ursprung der Erwartung: Ist es DEINE Erwartung?
Wenn es nicht deine Erwartung ist, dann erlaube dir NEIN zu sagen.
Finde die richtige Dosis: Lege die Messlatte nur ein Stückchen über der realistischen Einschätzung.
Und zum Schluss: Wenn dennoch Erwartungen nicht eintreffen, dann darf man auch daran wachsen. Akzeptiere was ist. Blicke nach vorne.