Wenn Mathe zum Problem wird, anstatt zur Lösung

von Birgit Ermeling

„Wie viel ist 7 plus 5?“, liest Lena aus ihrem Mathe Buch vor. Fast unmerklich beginnen ihre Finger zu zucken. Wenig später ertönt selbstsicher das Ergebnis: „11!“ „Fast, es sind 12.“, meint die Lehrerin. Nur um eins verrechnet, ist ja nicht schlimm. Was die Lehrerin nicht weiß ist, dass Lena ab dem siebten Finger so lange einen Finger nach dem anderen drückt, bis sie fünf Mal gedrückt hat. Lena kann die Zahl sieben dem zweiten Finger einer Hand zuordnen, beginnt aber das zählende Rechnen eben genau bei diesem Finger. Das Ergebnis ist dann um eins zu wenig.

Ursache

Fabian kommt jetzt in die dritte Klasse und kann schon alle Einmaleins Reihen. Bei der Frage: „Wie viel ist 4 mal 6?“ beginnt er langsam mit dem Kopf zu nicken, dann antwortet er: „24.“ Die Antwort ist richtig. Beim Kopfnickten hat Fabian die 6er Reihe von 1 mal 6 an leise aufgesagt, bis er bei der passenden Rechnung angekommen ist. Er hat die Rechnung mit keiner Vorstellung oder Handlung verknüpft und hat alle Malreihen wie Gedichte auswendig gelernt. Das Abrufen dieser Gedichte kostet jedes Mal ein hohes Maß an Konzentration und Zeit.

Definition

Das sind nur zwei von vielen Beispielen für Rechenschwäche oder Dyskalkulie, wie der Fachbegriff dafür lautet. Laut ICD-10 bedeutet Dyskalkulie oder Rechenschwäche eine „umschriebene Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft vor allem die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten, wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, …“

Dyskalkulie ist eine sogenannte Teilleistungsschwäche. Bei ansonsten normal ausgeprägter Intelligenz sind die Fähigkeiten mathematische Strukturen zu erkennen, Vorgänge zu verstehen oder Strategien zu entwickeln, gehemmt oder vermindert. Selbst bei optimaler Beschulung kann das Kind diese Defizite ohne zusätzliches speziell aufgebautes Training nicht kompensieren.

In den ersten Schuljahren mag diese Kompensation durch auswendig lernen noch stellenweise gelingen. Dies erfordert vom Kind einen ungemeinen Energie- und Konzentrationsaufwand. Früher oder später kommt es aber zu einer Überforderung. Frustration, sinkender Selbstwert, Stress uvm. sind die Folgen.

Die meisten Kinder verschließen sich der Welt der Zahlen vollkommen. Sie halten sich für zu dumm für Mathematik oder noch schlimmer, diese Annahme wird auf den gesamten schulischen Bereich ausgedehnt. Möglicherweise erkennen unerfahrene Lehrkräfte nicht die mögliche Ursache für die mangelnde Lernentwicklung und stufen das Kind pauschal als „schwach“ ein.

Üben, üben, üben – Was bringt´s?

Üben ist nicht gleich üben. Kinder wie Fabian, die das Einmaleins nach Reihen wie Gedichte auswendig gelernt haben, werden durch zusätzliches Üben nicht verstehen, worum es beim Malnehmen geht. Spätestens beim Erlernen der schriftlichen Division, bei der eine Reihe von verschiedenen Denkschritten erforderlich sind, wird Fabian verzweifeln.
Gezieltes Training wie Training bei Rechenschwäche oder Dyskalkulie Training erfolgt aufbauend. Bevor die Grundlagen nicht wirklich verinnerlicht wurden, erfolgt kein nächster Schritt. Dabei werden möglichst alle Sinne angesprochen. Im Training wird im wahrsten Sinne des Wortes begriffen, gehandelt, gesprochen, geschrieben, gehört, gesehen.
Im Fall von Fabian wird zum Beispiel mit dem Verständnis der Rechenart an sich begonnen. Anschließend erfolgt der Aufbau anhand der geschriebenen Rechnung mit Rechenmaterial in handelnder Form. Als dritten Schritt wird eine Handlung mit Rechenmaterial ausgeführt, parallel dazu gesprochen und die Rechnung verschriftlicht.

Am Beispiel der Malrechnung 3 . 4 möchte ich das erläutern:

Verständnis der Rechenart: Mathematik ist eine Sprache. Das Rechensymbol gibt einen bestimmten Vorgang vor. So bedeutet „Malnehmen“, dass eine Menge so oft wiederholt wird (malgenommen), wie vorgegeben. Dies gelingt in der Einführung am besten anhand von Rechengeschichten. „Tami geht dreimal zum Bücherregal und holt jeweils vier Bücher aus dem Regal.“

Geschriebene Rechnung mit Material: Die Rechnung wird aufgeschrieben und der Vorgang mit Rechenmaterial gelegt. Dazu wird gesprochen. „Ich nehme vier Plättchen. Dann nehme ich noch einmal vier und noch einmal vier. Ich nehme also drei Mal vier Plättchen.“

Handeln – verbalisieren – verschriftlichen: Als dritten Schritt wird die Handlung durchgeführt und wieder dazu gesprochen. Am Ende wird die Rechnung aufgeschrieben. So erkennt das Kind, die Übersetzung eines Vorganges in die mathematische Sprache.

Klingt so einfach! Aber …

Das Training in dieser Form erfolgt nicht innerhalb einer Trainingseinheit, sondern erstreckt sich über mehrere aufeinanderfolgende Trainingsstunden. Schritt eins wir in einer Einheit mehrmals wiederholt. In den täglichen Trainingseinheiten zu Hause wird geübt und in der nächsten Trainingseinheit wiederholt. Genauso wird mit Schritt zwei und drei verfahren. Manchmal ist es notwendig wieder einen Schritt zurückzugehen. Zeit lassen ist der Schlüssel zum Erfolg.
Schule kann diese Form der Förderung nicht bieten. Dyskalkulie Training erfolgt im Einzelsetting, um speziell auf den Wissenstand des Kindes eingehen zu können. Denk- und Handlungsschritte können im Training so oft wiederholt werden, bis sie gesichert sind. Das klappt in der Schule auch nicht, da hier ständig Zeitdruck herrscht. So wird das Programm auf jedes Kind speziell zugeschnitten und laufend angepasst.

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